Neue Impulse für die Wahlrechtsreform

Das am Montag, 2. November2009 im Parlament abgehaltene Symposium "Persönlichkeiten und Demokratie – Wie wählen wir die besten Köpfe" brachten neue Impulse und spannende Referate, Diskussionen und Informationen. Die Parlamentskorrepondenz und mehrere Tageszeitungen berichteten ausführlich über das vom Wissenschaftsministerium und der Saubermacher Dienstleistungs AG geförderte Symposium. Lesen Sie den Bericht der Parlamentskorrespondenz.

Hier können Sie auf der Parlamentsseite die FOTOS der Veranstaltung ansehen.

Parlamentskorrespondenz/06/02.11.2009/Nr. 931

Persönlichkeitswahlrecht als Rezept gegen Demokratieverdrossenheit?

Wien (PK) – Die Rolle der Person in Staat und Demokratie, die Personalisierung des Wahlrechts und die politische Personalauswahl in Österreich – diesen Fragestellungen geht heute ein hochrangig besetztes Symposion nach, zu dem die Präsidentin des Nationalrats, Barbara Prammer, und die Initiative Mehrheitswahlrecht in das Parlament geladen haben.

Prammer: Nationalrat muss mehr Selbstbewusstsein entwickeln

Das Wahlrecht ist eine zentrale Frage der Demokratie, sie ist die Visitenkarte der Demokratie, betonte Nationalratspräsidentin Barbara Prammer in ihrer Begrüßung. Deshalb sei es ihr auch ein Anliegen, die Diskussion darüber im Hohen Haus zu führen. Im Mehrheitswahlrecht sieht Prammer einen möglichen Ansatz, der Demokratieverdrossenheit zu begegnen, ausreichen werde das aber nicht, zeigte sie sich überzeugt. Skepsis ist aus ihrer Sicht  angebracht, weil laut Untersuchungen der Frauenanteil in politischen Funktionen in Staaten mit mehrheitsförderndem Wahlrecht am geringsten ist.
Die Menschen wieder näher an die Politik heranzuführen und damit die Demokratie grundsätzlich zu stärken, sei die wesentliche Herausforderung, unterstrich Prammer und verteidigte die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre. Die Erfahrungen, nicht zuletzt in der Demokratiewerkstatt, machten deutlich, dass der Wissensstand Jugendlicher über Politik und Demokratie genauso gut oder schlecht sei wie von älteren BürgerInnen, bemerkte Prammer.
Hinsichtlich der Akzeptanz von Politik komme es nicht nur auf die einzelnen Abgeordneten an, sondern auf den Nationalrat insgesamt, betonte die Präsidentin weiter. Dieser müsse sich emanzipieren und mehr Selbstbewusstsein entwickeln, sagte sie. Das könne einerseits durch die Weiterentwicklung der Geschäftsordnung gefördert werden, insbesondere durch die Stärkung des Nationalrats als Kontrollinstanz, andererseits durch eine Reform des Immunitätsrechts. Eine Novelle zur Geschäftsordnung, durch die die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen als Minderheitsrecht festgelegt wird, könnte laut Prammer in der ersten Hälfte des Jahres 2010 beschlussreif sein. Darüber hinaus beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe mit der Neugestaltung der Immunität. Man überlege, die außerberufliche Immunität abzuschaffen und die berufliche neu zu definieren, skizzierte die Nationalratspräsidentin den diesbezüglichen Diskussionsprozess. Bezüglich des diskutierten E-Votings äußerte die Nationalratspräsidentin verfassungsrechtliche Bedenken.

Neisser: Todsünden Unsachlichkeit und Verantwortungslosigkeit

Universitätsprofessor und ehemaliger Zweiter Präsident des Nationalrats, Heinrich Neisser, nannte die Initiative Mehrheitswahlrecht eine Aktivität der Zivilgesellschaft. Dabei sollen nicht nur Fragen des Mehrheitswahlrechts selbst diskutiert werden, sondern es gehe auch um den Begriff der Personalisierung. Personalisierung bedeute sowohl die Verbesserung der Möglichkeit, auf die Person des zu Wählenden Einfluss zu nehmen, als auch die personale Zuordnung politischer Verantwortlichkeit, und damit sei eine zentrale Frage der Demokratie angesprochen. Unsachlichkeit und Verantwortungslosigkeit bezeichnete Neisser demzufolge auch als politische Todsünden.
Es sei daher zu untersuchen, ob es möglich ist, ein einheitliches Anforderungsprofil für PolitikerInnen zu entwickeln, erläuterte Neisser, andererseits zu hinterfragen, ob es den Typus eines zeitgemäßen Politikers bzw. einer zeitgemäßen Politikerin überhaupt gibt, zumal die politische Aufgabenstellung einer Dynamik unterworfen sei. Die Personenauslese in einer Demokratie ist laut Neisser das Ergebnis eines Entdeckungsverfahrens und eines politischen Wettbewerbs. Dabei seien QuereinsteigerInnen nicht die Norm, und man habe mit diesen auch sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Als ein wesentliches Merkmal von Verantwortlichkeit hob Neisser pointiert die Tapferkeit vor dem Parteifreund hervor.

Jabloner: Vermischung öffentlicher mit privater Sphäre problematisch

Clemens Jabloner (Präsident des Verwaltungsgerichtshofs) setzte sich in seinem Referat mit den Begriffen Person, Amt und Institution auseinander und erinnerte an das grundsätzlich unterschiedliche Amtsverständnis in Monarchie und Republik. Während das mittelalterliche Staatsdenken auf der Einheit von Person und Amt aufbaute und sämtliche auch körperliche Handlungen des Amtsinhabers als öffentlich interpretierte, trenne die Republik zwischen Person und Amt. Doch auch in der Republik könne es keine gänzliche Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre geben, wie etwa die Regeln über die Unvereinbarkeit deutlich machen. Problematisch sei allerdings die zunehmende Vermischung von politischem und privatem Bereich, vor allem dann, wenn die öffentliche Sphäre dadurch von der privaten aufgesogen werde, warnte Jabloner unter Hinweis auf die jüngste Entwicklung in Italien.

Puntscher-Riekmann: Persönlichkeiten für internationalen Kontext

Sonja Puntscher-Riekmann (Vizerektorin der Universität Salzburg) ging in ihren Überlegungen zum Thema Persönlichkeiten und Legitimation von den von Max Weber formulierten politischen Kardinaltugenden Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß aus und sah die Politiker vor allem zur Distanz zu den Dingen und den Menschen aufgerufen. Die Demokratie stehe unter dem Verdacht, das Mittelmaß und damit nicht die Besten, sondern die am meisten Angepassten zu begünstigen, gab sie zu bedenken. Es sei aber nicht richtig, die Frage der Persönlichkeit in der Politik nur auf das Wahlrecht zu konzentrieren, Persönlichkeiten würden in allen Wahlsystemen entstehen. Durch die EU würden sich zudem neue Bedingtheiten für die Politik ergeben. So seien heute Kooperation, Beschränkung der nationalen Politik und Verhandeln in einem Verbund gefragt. Für Puntscher-Riekmann legte dies den Schluss nahe, dass nunmehr Persönlichkeiten gefunden werden müssen, die vor allem auch im internationalen Kontext operieren können.

Filzmaier: Starke Personalisierung trotz Verhältniswahlrecht

Peter Filzmaier (Donau Universität Krems) meinte in seinem Statement zum Thema Persönlichkeiten und Mediendemokratie, die Personalisierung sei in Österreich trotz des Verhältniswahlrechts sehr stark ausgeprägt. Die "Elefantenrunde" und die Zweierkonfrontationen in der Wahlkampfberichterstattung kommen beim Publikum gut an und sorgen für hohe Einschaltquoten. Politische Inhalte würden hinter dem optischen Eindruck zurücktreten, das Gesagte spiele nur zu rund 10 % eine Rolle. Filzmaier wies auf Umfragedaten im Zusammenhang mit den jüngsten Landtagswahlen in Oberösterreich und Vorarlberg hin, aus denen hervorgeht, dass personenbezogene Wahlmotive zu rund 90 % vorherrschend waren. Politische Parteien würden daher auch immer mehr auf Persönlichkeiten setzen. Für langfristige Strategien sei allerdings die Zuspitzung auf eine Persönlichkeit eher problematisch, auch erleichtere die Personalisierung die Negativität. So sei es einfacher, eine Person zu attackieren als ein Wahlprogramm.

Müller: Priorität für politische Verantwortlichkeit

Wolfgang C. Müller von der Universität Wien befasste sich im zweiten Themenblock des Symposions mit den Mechanismen der Personalauslese bei Wahlen. Dazu stellte er zuerst die Frage in den Raum, ob ein Persönlichkeitswahlrecht normativ überhaupt wünschenswert sei. Ein internationaler Vergleich zeige, dass eine Überbetonung der Persönlichkeitskomponente dazu führe, dass Prominente, Milliardäre, Film- und sogar Pornostars in Mandate gewählt würden, obwohl deren politische Kompetenz vielfach fragwürdig sei. Gerade in einer funktionierenden Demokratie müsse aber der Aspekt der politischen Verantwortlichkeit, die eben nur mit entsprechendem Sachverstand gewährleistet wäre, entsprechende Priorität haben.
Müller hielt zudem fest, dass eine Persönlichkeitswahl nicht automatisch mit einem Mehrheitswahlrecht gleichzusetzen sei. Ein Mehrheitswahlrecht biete zwar den Vorteil stabiler Regierungsmehrheiten, es sei dabei aber auch die Gefahr gegeben, dass gerade bei so genannten "sicheren Sitzen" die Personalauswahl zweitrangig behandelt werde. Die Parteien tendierten in diesen Fällen dazu, Einfluss in ihrem Sinne zu nehmen, erläuterte Müller, der sodann auf verschiedene Wahlsysteme wie das deutsche, das britische oder das irische einging, um deren Unterschiede deutlich zu machen.
Schließlich stellte Müller noch klar, dass nicht alles, was nach Persönlichkeitswahl aussehe auch tatsächlich eine solche ist. So habe sich gezeigt, dass ein und derselbe Kandidat dort, wo er nur angekreuzt zu werden brauchte, substantiell höhere Zustimmung erhielt als dort, wo er extra hätte hingeschrieben werden müssen. Zur Kernfrage des Symposions, ob ein Mehrheitswahlrecht eine Verbesserung des österreichischen Ist-Zustandes wäre, wollte Müller keine klare und ausgewiesene Prostimme abgeben. Die Materie sei komplex und vielschichtig, einfache Antworten könne die Wissenschaft da nicht geben, man dürfe sie auch nicht von ihr erwarten.

Strohmeier: Die Situation in Deutschland

Gerd Strohmeier von der TU Chemnitz beleuchtete sodann das deutsche Wahlsystem unter dem Gesichtspunkt seiner Persönlichkeitsorientierung. Strohmeier verwies darauf, dass Regelwerke immer auch einen psychologischen Effekt beinhalteten. Was also im Vorfeld einer Normierung wohldurchdacht gewesen sei, könne dann in der Praxis eine eigene Dynamik entwickeln.
Das deutsche Wahlrecht sei im Prinzip ein Verhältniswahlrecht mit Persönlichkeitselementen und einer Sperrklausel. Auf den ersten Blick würden dabei die Hälfte aller Mandate personenbezogen vergeben. Es zeige sich aber bei einer näheren Analyse, dass im deutschen Wahlrecht viele persönlichkeitsbezogenen Elemente in der Praxis einen sekundären Stellenwert besäßen. So gebe es im Wahlkreis innerhalb der jeweiligen Partei keine Auswahlmöglichkeit, zweitens seien Wahlkreiskandidaten oftmals durch die Landesliste abgesichert und zögen so trotz ausgebliebener Kür im Wahlkreis in die legislative Körperschaft ein, und drittens hätten die Kandidaten von Kleinparteien wie unabhängige Kandidaten a priori keine Chance auf ein Direktmandat, was das Wahlverhalten der Wähler wieder entsprechend beeinflusse.
Auch das so genannte Stimmensplitting sei kein Indikator für ein persönlichkeitsorientiertes Wahlverhalten. Vielmehr werde dadurch eine Koalitionspräferenz ungeachtet der jeweiligen Kandidaten zum Ausdruck gebracht, konstatierte Strohmeier, der schließlich auch noch ausführte, welche Faktoren zu einer Schwächung der Wahlkreisbindung führten: so die Entfernung des Wahlkreises von der Hauptstadt, die Rolle des Abgeordneten im politischen Geschehen (Minister oder Hinterbänkler einer kleinen Oppositionsfraktion) und schließlich auch die Frage, ob es sich bei dem Wahlkreis um eine klare Sache für einen Kandidaten oder um einen umstrittenen Wahlkreis handelt. Strohmeiers Fazit: Das deutsche Wahlsystem führe zu einer verhältnismäßig schwachen Persönlichkeitsbindung, diese Frage sei also für jene nach einem Mehrheitswahlrecht nicht entscheidend.

Lantschner: Beispiel Südtirol

Emma Lantschner von der Universität Graz porträtierte schließlich das Südtiroler Wahlsystem als Fallbeispiel, dabei auf die Besonderheiten dieses Wahlrechts eingehend.
So gebe es in Südtirol eine Ansässigkeitsklausel, nach der nur wahlberechtigt sei, wer mindestens vier Jahre lang im Lande ansässig ist. Zudem müssten sich Kandidaten im Vorfeld einer Wahl dazu bekennen, ob sie deutscher, italienischer oder ladinischer Sprache seien. In der Folge finde der politische Wettbewerb nämlich in zwei parallelen Arenen, der deutschen und der italienischen, statt, was auch in der Medienlandschaft seine Entsprechung finde.
Bemerkenswert am Südtiroler Wahlrecht ist der Umstand, dass das gesamte Land ein Wahlkreis sei, in dem 35 Mandate zur Vergabe gelangten, die gemäß dem Prozentanteil der einzelnen Listen zugeteilt würden. Dabei sei innert der Listen allerdings die Zahl der Vorzugsstimmen von entscheidender Bedeutung, denn die Mandate werden nicht gemäß der Listenreihung, sondern gemäß der Zahl der Vorzugsstimmen des einzelnen Kandidaten vergeben. Kandidaten sind daher zu verhalten, möglichst intensiv für sich zu werben, während der Listenreihung innerhalb einer wahlwerbenden Partei eher geringe Bedeutung beizumessen sei, so Lantschner, die sodann die Auswirkungen dieses Wahlsystems auf die Südtiroler Politlandschaft analysierte.

Parlamentskorrespondenz/06/02.11.2009/Nr. 932

Symposion diskutiert über Persönlichkeitsorientierung im Wahlsystem

Poier: Wahlrechtsreform 1992 hat Ziele nicht erreicht

Wien (PK) – Am Nachmittag wurde das Symposion der Initiative Mehrheitswahlrecht im Parlament mit dem Themenblock "Persönlichkeitsorientierung des österreichischen Wahlsystems" fortgesetzt. Dabei befasste sich zunächst der Wahlrechtsexperte Klaus Poier mit den Auswirkungen der Wahlrechtsreform 1992. Durch die Einrichtung von 43 Regionalwahlkreisen und der Vergabe von Direktmandaten sollte, so die Intention, das österreichische Wahlsystem personalisiert und der persönliche Kontakt zwischen WählerInnen und Gewählten gestärkt werden.
Poier zufolge ist dieser Versuch allerdings gescheitert. Das geltende Wahlsystem führe zu unterschiedlichen Repräsentationsergebnissen und unterstütze den Gedanken von Vertrauen und Verantwortung nicht, meinte er. Ebenso wenig finde ein regelmäßiger Austausch der gewählten Personen statt, und es scheine so, als ob die Gewählten mit Direktmandaten auch nicht unabhängiger von ihrer Partei seien. Letztendlich sei das System, so Poier, nicht Fisch und nicht Fleisch. Er appellierte daher an die Politik, sich entweder für Einerwahlkreise oder generell für größere Wahlkreise zu entscheiden.
Wie unterschiedlich das geltende Wahlsystem wirkt, demonstrierte Poier anhand einiger Beispiele. So bewirkt die extrem unterschiedliche Größe der 43 Regionalwahlkreise – es werden je Wahlkreis zwischen ein und acht Mandaten vergeben –, dass in manchen Regionen kaum oder gar keine Direktmandate vergeben werden. So ist es nicht nur in Osttirol faktisch unmöglich, ein Direktmandat zu erzielen, auch in Innsbruck ist seit 1994 noch kein einziges Wahlkreismandat vergeben worden. Bei den letzten Wahlen schaffte es gar in acht Regionalwahlkreisen kein Kandidat bzw. keine Kandidatin direkt in das Hohe Haus.
Es sei, meinte Poier, skurril, dass es Wahlkreise gebe, wo eine Partei mit mehr als 37 % der Stimmen kein Wahlkreismandat erringen könne, während etwa in manchen Regionen bereits weniger als 19 % der Stimmen reichten. Vor allem Niederösterreich, Oberösterreich und das äußere Wien können durch große Wahlkreise relativ viele Regionalabgeordnete in den Nationalrat entsenden. Insgesamt wurden bei der letzten Wahl laut Poier 92 Mandate auf Regionalwahlkreisebene vergeben, ein Großteil davon, nämlich rund 85 %, erhielten ÖVP- und SPÖ-KandidatInnen.

Stein: Kaum Umreihungen durch Vorzugsstimmensystem

Robert Stein, Leiter der Wahlabteilung des Innenministeriums, ging aus dem Blickwinkel der Vollziehbarkeit auf verschiedene Möglichkeiten der Beeinflussung von Kandidatenlisten ein. In diesem Zusammenhang gab er zu bedenken, dass komplizierte Systeme wie beispielsweise das zwischen 1949 und 1971 in Österreich geltende System des Reihens und Streichens von den WählerInnen nicht angenommen würden und auch Auszählungen erschwerten.
Allerdings hat seiner Darstellung nach auch das 1971 eingeführte und mit der Wahlrechtsreform 1992 ausgeweitete Vorzugsstimmensystem wenig Auswirkungen. So ist es bis 1990 durch Vorzugsstimmen lediglich einmal zu einer Umreihung der KandidatInnen einer Partei gekommen, und auch nach 1992 haben nur zwei Bewerber genügend Vorzugsstimmen für eine Vorreihung erhalten. Dazu kommen zwei Umreihungen bei Europawahlen, bei denen allerdings ein anderes, unter Experten umstrittenes, Vorzugsstimmensystem gilt. Ob dieses verfassungskonform ist, konnte der VfGH allerdings nicht prüfen, skizzierte Stein, da der nach hinten gereihte Kandidat die Wahl zu spät angefochten hatte.
Allgemein wertete es Stein als eine politische Frage, ob man Umreihungen zulassen wolle oder nicht. Gemessen am Aufwand sei das Vorzugsstimmensystem in Österreich aber keine Erfolgsgeschichte, meinte er. Ohne Verstärkungseffekt durch die Wahlarithmetik macht ein Vorzugsstimmensystem seiner Ansicht nach nicht viel Sinn.

Lackner: Vorwahlen zur Kandidatenauswahl in Österreich unpopulär

Nora Lackner, Institute d'Etudes Politiques, nahm die Kandidatenauswahl der österreichischen Parteien unter die Lupe und konstatierte, dass Vorwahlen in Österreich nicht sehr weit verbreitet sind. Lediglich die Kandidatenauswahl der Grünen basiere zumindest auf Landes- und Regionalebene auf Vorwahlen, erläuterte sie. Ansonsten legen in der Regel letztendlich Landes- und Bundesparteivorstände die Kandidatenlisten fest, wobei SPÖ und ÖVP auf regionaler Ebene zum Teil auf Wahlkonvente zurückgreifen.
Gesetzliche Vorgaben für die Listenerstellung gibt es laut Lackner nicht, der Gestaltungsspielraum ist also groß und die Transparenz, wie sie ausführte, entsprechend gering. Vielfach sei auch nach wochenlangen Recherchen nicht zu eruieren gewesen, wie einzelne Wahllisten zustande gekommen seien. Generell zeigen Lackner zufolge Studien, dass bei Vorwahlen Frauen und QuereinsteigerInnen "schlechte Karten" haben, wenn es keine Quotenregelung gibt.

Steininger: Frauen bekommen weniger Vorzugsstimmen als Männer

Universitätsdozentin Barbara Steininger (Universität Wien) beschäftigte sich mit dem Thema "Personalisierung und Frauenrepräsentation". Sie gab zu bedenken, dass Politik mittlerweile zum Beruf geworden sei, ohne ein wirkliches Berufsbild zu haben. Es gebe kein Anforderungsprofil und auch keine qualifizierenden Studien oder andere Lehrgänge. Als wichtige "Gatekeeper" am Weg in die Politik würden sich Bezirksparteivorstände, aber auch Landes- und Bundesparteivorstände erweisen. 
Steininger wies auf das Problem hin, dass Frauen in Regionalwahlkreisen in der Regel weit weniger Vorzugsstimmen bekommen als männliche Kandidaten. Nur wenn Frauen eine wichtige Parteifunktion oder ein wichtiges Amt inne haben, sei es etwa das einer Bürgermeisterin, einer Parteivorsitzenden oder einer Ministerin, könnten sie mit vielen Vorzugsstimmen rechnen. Gleichzeitig zeigt sich Steininger zufolge jedoch auch, dass Frauen grundsätzlich eher Parteien wählten, die eine Frauenquote haben.
Bei der Einführung des Mehrheitswahlrechts würde der Frauenanteil im österreichischen Parlament sinken, zeigte sich Steininger überzeugt und untermauerte dies mit internationalen Vergleichsdaten. Demnach nehmen in der EU Staaten mit Verhältniswahlrecht beim Frauenanteil in den Parlamenten die ersten zwölf Plätze ein. Im Übrigen hob die Politikwissenschafterin hervor, dass Frauen in der Politikberichterstattung noch seltener vorkommen, als es ihrem ohnehin geringen Anteil in der Politik entspricht.
Um den Frauenanteil in der Politik ging es hauptsächlich auch bei der anschließenden Diskussion. Rechtswissenschafter Theo Öhlinger hielt fest, dass ein Mehrheitswahlsystem per se weder Frauen noch Männer bevorzuge. Dass Länder mit Mehrheitswahlsystemen einen geringeren Frauenanteil haben, liegt ihm zufolge nicht am Wahlsystem, sondern an gesellschaftlichen Verhältnissen, die es zu ändern gelte. Wahlrechtsexperte Poier meinte, es sei evident, dass Einerwahlkreise Frauen benachteiligten, das gilt seiner Ansicht nach aber nicht für Mehrheitswahlsysteme an sich. Moderator Heinrich Neisser appellierte an die Politik, das Vorzugsstimmensystem zu überdenken, das seiner Ansicht nach nicht dazu dienen sollte, SpitzenkandidatInnen zu legitimieren.

Reformüberlegungen zur politischen Personalauswahl in Österreich

Unter der Moderation des ehemaligen Bundesratspräsidenten Herwig Hösele diskutierte das Symposion abschließend Reformüberlegungen über die politische Personalauswahl in Österreich.

Gerd Bacher: Demokratie braucht politische Persönlichkeiten  

Das Impulsreferat hielt der ehemalige ORF-Generalintendant Gerd Bacher. In einer pointierten Philippika setzte sich Bacher kritisch mit der Situation des politischen Personals in Österreich auseinander, vermisste große Persönlichkeiten und plädierte vehement dafür, aus dem Stadium intellektuell hochstehender Kongresse zum politischen Prozess überzugehen. Nichts weniger als eine unblutige Revolution sei notwendig, um eine Mikado-Politik zu überwinden, die Bacher mit dem Satz charakterisierte: "Wer sich bewegt, ist tot". Bacher machte auf Politiker aufmerksam, die auch nach schweren Wahlniederlagen nicht zurücktreten und kritisierte die Auffassung, zuerst komme in der Politik das Programm und erst dann die Persönlichkeit. Neues erfinde sich nicht von selbst und Elite dürfe nicht mit Prominenz verwechselt werden, sagte Bacher, der begeistert an die Leistungen großer Persönlichkeiten in der österreichischen Politik von Franz Olah über Josef Klaus, Bruno Kreisky und Rudolf Kirchschläger erinnerte. Die Demokratie brauche Persönlichkeiten mit Überzeugungs- und Begeisterungsfähigkeit und könne sich ohne solche  Persönlichkeiten nicht weiterentwickeln, so der ehemalige ORF-Generalintendant Bacher. Die bedauerliche Situation des ORF, der längst nicht mehr seine wichtige Rolle für die österreichische Identität spiele, wertete Bacher als ein Beispiel dafür, dass die Politik ihre Reform-Hausaufgaben noch nicht einmal angegangen sei. Österreich sollte sich mit einem persönlichkeitsbezogenen Mehrheitswahlrecht neu aufstellen. Es geht für Gerd Bacher um die Begabtenförderung des politischen Personals durch ein neues Wahlrecht.

Trautl Brandstallers Plädoyer für eine partizipative Demokratie

Die Journalistin und Buchautorin Trautl Brandstaller sah die Demokratie an einem kritischen Punkt angelangt, wobei sie sich insbesondere wegen des Rückgangs der Wahlbeteiligung, des Schrumpfens der Volksparteien und autoritärer Tendenzen in der Jugend besorgt zeigte. Die Parteien verlieren zunehmend ihre Problemlösungskapazität und die Politik insgesamt ihren Bezug auf das Gemeinwohl, Politologen wie der Brite Colin Crouch sprächen bereits von einer Re-Feudalisierung der Demokratie.
Ein Gegenmittel sah Brandstaller in einer stärkeren Bürgerbeteiligung, wobei sie an das Konzept einer partizipativen Demokratie erinnerte und darin einen Ansatz für eine Wahlrechtsreform sah. Brandstaller präferierte ein Mischsystem mit Elementen eines Mehrheits- und eines Verhältniswahlrechts. Es gehe jedenfalls darum, dem zum "Kreuzlschreiber" degradierten Wähler deutlich zu machen, dass er einen Abgeordneten wählt, den er kenne, und dem Abgeordneten zu signalisieren, dass er sich seinerseits um seine Wähler kümmern müsse. Allein schon die Einführung des deutschen Wahlrechts wäre für Österreich ein Fortschritt und würde die Chance bieten, das politische Personal zu verbessern.

Michael Fleischhacker für ein persönlichkeitsorientiertes Wahlrecht  

Der Chefredakteur der "Presse", Michael Fleischhacker, wies auf die epochalen Veränderungen im Verhältnis zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit - nicht zuletzt auch durch das Internet - hin und sprach pointiert vom "Ende der Kanzelredner", die Kraft ihrer Persönlichkeit überzeugen und mitreißen. Unter den Bedingungen interaktiv gestalteter Medien und einer Transparenz, die 24 Stunden und 7 Tage in der Woche praktiziert werde, hätten es auch die von Gerd Bacher zitierten großen politischen Persönlichkeiten der Vergangenheit heute schwer, meinte Fleischhacker, sah aber dennoch Grund genug, für ein Mehrheitswahlrecht einzutreten, in dem es auf die Persönlichkeiten ankommt.

Bernd Schilcher will Bürger wieder in die Politik hereinholen  

Univ.-Prof. Bernd Schilcher (Universität Graz) analysierte die politische Situation in Österreich als Ergebnis eines Prozesses, in dem die BürgerInnen aus der Politik ausgeschlossen wurden, ihnen aber gleichzeitig das Gefühl gegeben wurde, mitzubestimmen. Dazu komme, dass sich immer weniger erfolgreiche Persönlichkeiten ein politisches Amt "antun" wollen. Es sei nicht attraktiv, weniger zu verdienen, seine Familie aufs Spiel zu setzen und auf freie Wochenenden zu verzichten. Schilcher kritisierte die Entwicklung der Parteien, deren Führungspersonal nicht mehr nach dem Wahltag, sondern nach dem Parteitag schiele und zeigte sich besorgt, von der Tatsache, dass 50 % der Staatsmittel für die Reparatur der Vergangenheit, nämlich für Soziales, aufgewendet würde, aber nur 10 % für Bildung, Wissenschaft und Forschung - also für die Gestaltung der Zukunft.
Schilcher hielt ein neues Wahlrecht für ein Mittel, BürgerInnen, die sich etwas zu sagen trauten, wieder in die Politik zu bringen und die Tugend der freizügigen Rede aufzuwerten. "Wir brauchen ein Wahlrecht, das couragierten Menschen ein Angebot macht, sich politisch zu engagieren", zeigte sich Bernd Schilcher überzeugt.

In der Debatte mit dem Publikum widersprach Gerd Bacher vehement der Auffassung, die großen Persönlichkeiten der Vergangenheit hätten es unter gegebenen medialen Bedingungen schwer. Ein Roosevelt habe die USA gegen fast die gesamte öffentliche Meinung vom Eintritt in den Zweiten Weltkrieg überzeugen können. Und ein Bruno Kreisky würde auch mit den heutigen politischen Problemen fertig werden, sagte Bacher. - Trautl Brandstaller sprach sich dafür aus, den Primat der Politik gegenüber der Ökonomie wiederzugewinnen und das Konzept einer partizipativen Demokratie wieder aufzunehmen.

Heinrich Neissers Wunsch: Ein Volksbegehren zur Wahlrechtsreform   

In seinem Schlusswort unterstrich Heinrich Neisser die aktuellen Gefahren, die der Demokratie durch abnehmende Wahlbeteiligung drohten, registrierte ein Defizit an überzeugenden politischen Persönlichkeiten und ortete auch einen auffallenden Mangel an der Fähigkeit zu großen symbolischen Akten und Gesten, wie sie etwa Außenminister Alois Mock mit seinem ungarischen Amtskollegen beim Durchtrennen des Eisernen Vorhangs bewies, oder der deutsche Bundeskanzler Kohl der bei Verdun Hand in Hand mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterand der Toten der beiden Weltkriege gedachte. Er setze auf die schöpferische Unruhe, die das heutige Symposion bei seinen TeilnehmerInnen ausgelöst haben sollte, kündigte weitere Initiativen für eine Wahlrechtsreform an und äußerte den Wunsch, es möge gelingen, ein Volksbegehren für eine Wahlrechtsreform in die Wege zu leiten.

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Hinweise auf des Medienecho sind in unserer Dokumentation aufgelistet.

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