Demokratiebefund 2016 präsentiert
Parteienverdrossenheit droht in Demokratiemüdigkeit umzuschlagen
Initiativen zu Wahlrecht, ORF und Medien, direkter Demokratie und
politischer Bildung besonders notwendig
Der Vertrauensverlust in die österreichische Politik hat 2016 bedauerlicherweise einen weiteren dramatischen Zuwachs bekommen, sodass die Gefahr besteht, dass die generelle Parteien- und Politikverdrossenheit in Demokratiemüdigkeit umschlägt. Angesichts der großen Herausforderungen, die sich dem politischen System stellen, sind Initiativen zur Stärkung der Demokratie in Österreich notwendiger denn je. Dies stellt die „Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform“ (IMWD) in ihrem sechsten Demokratiebefund fest, den der Sprecher der Initiative Heinrich Neisser gemeinsam mit weiteren Proponenten sowie mit Karin Cvrtila vom OGM-Institut, David Campbell von der Sektion Political Leadership der ÖGPW (Österreichische Gesellschaft für Politikwissenschaft) und Melanie Sully (Direktorin des Instituts für Go-Governance) am Mittwoch, 19. Oktober 2016 im Wiener Presseclub Concordia präsentierte. Der heuer zum sechsten Mal vorgelegte Demokratiebefund brachte für den Berichtszeitraum Oktober 2015 bis Mitte Oktober 2016 folgende Hauptergebnisse:
Nachdem bereits der erste Durchgang der Bundespräsidentenwahlen für die Regierungsparteien ein alarmierendes Ergebnis brachte, das vielfach als massiver Protest interpretiert wurde und zahlreiche Untersuchungen diesen Befund unterstrichen, zeigt auch die OGM-Exklusivumfrage für die IMWD vom 20. bis 22. September 2016 ein deprimierendes Bild:
82 % haben wenig bis gar kein Vertrauen in die Politik (2015: 78 %, 2014: 70 %), wobei die Gruppe, die angibt, gar kein Vertrauen zu haben, auf 31 % angestiegen ist. Ein ähnliches, noch schlechteres Ergebnis brachte die Frage nach den Politikern. In sie setzen 89 % wenig bis gar kein Vertrauen, wobei der Prozentsatz derer, die völligen Vertrauensverlust konstatieren, auf 35 % gestiegen ist.
Auch im längerfristigen 5-Jahresvergleich betonen 77 %, dass das Vertrauen gesunken ist, während es im Vorjahr 74 % und 2014 nur 58 % waren. Dass der Kanzlerwechsel für das Bild der Regierungsarbeit bisher eigentlich nichts gebracht hat, zeigt auch die Feststellung von 52 %, dass die Problemlösungskapazität der Bundesregierung im letzten Jahr gesunken ist, während nur 12 % eine höhere registrieren und 32 % ein Gleichbleiben wahrnehmen. Auch die Erwartung für das kommende Jahr ist sehr gering: 42 % erwarten ein weiteres Absinken, 32 % ein Gleichbleiben und nur 21 % eine Zunahme der Problemlösungskraft.
Ähnlich, nur etwas etwas milder als in der Bevölkerungsumfrage fällt die Beurteilung durch die ExpertInnen in der alljährlichen Befragung nach dem Schulnotensystem aus.
Darüber hinaus werden 2016 in der ExpertInnenumfrage als die wichtigsten Maßnahmen zur Demokratiereform in Österreich der Ausbau der politischen Bildung (1,65), die Entpolitisierung des ORF (1,73), die Stärkung der unabhängigen Justiz (1,83), eine höhere Transparenz der Parteienfinanzierung (1,92) und die stärkere Personalisierung des Wahlrechts (1,93) angesehen.
Tatsächlich aber war das Berichtsjahr von einem bedauerlichen Stillstand in der Demokratiereform geprägt – weder beim Wahlrecht noch bei der direkten Demokratie, aber auch nicht beim Informationspflichtgesetz oder der Entparteipolitisierung des ORF oder der „unendlichen Geschichte“ der Bundesstaats- und Föderalismusreform gab es Fortschritte.
In diesem Sinne fordert die IMWD vom Nationalrat und von der Bundesregierung, nunmehr entschieden folgende Initiativen zu ergreifen:
- Wahlrechtsreform in drei Stufen:
1. um jene Probleme zu beheben, die zur Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl durch den Verfassungsgerichtshof geführt haben, wobei die Briefwahl als ein wichtiges bürgerfreundliches Element gesehen wird, das grundsätzlich ausgebaut und vereinfacht und keinesfalls eingeschränkt und rückgebaut werden soll. Bei Ergebnisbekanntgabe sollten nach dem Muster der Schweiz und Deutschlands bereits die Briefwahlstimmen mitberücksichtigt werden. Die Problematik von verbotenen Bekanntgaben von Teilergebnissen und Hochrechnungen vor Schließen der letzten Wahllokale ist zu lösen. Insgesamt geht es um praxisnahe und sachgerechte Maßnahmen, die die Ausübung des geheimen und durch Dritte unbeeinflussten Wahlrechts sicherstellen. Die Abläufe sollten auch einfacher und weniger komplex – und damit weniger fehleranfällig – gestaltet werden, damit Rechtsverletzungen und in weiterer Folge auch Wahlwiederholungen vermieden werden. Auch die Möglichkeit eines vorgezogenen Wahltages (analog von Beispielen in Niederösterreich und der Steiermark) und des e-Votings sind zu prüfen;
2. um ein von den BürgerInnen gewünschtes Persönlichkeitswahlrecht endlich zu realisieren;
3. um durch entsprechende mehrheitsfördernde Elemente die Bildung einer arbeits- und entscheidungsfähigen Bundesregierung zu fördern.
- Stärkung der direkten und partizipativen Demokratie – wenigstens Realisierung der Minimalergebnisse der parlamentarischen Enquetekommission mit vereinfachtem Zugang zu Volksbegehren und verpflichtenden Bürgerinformationen zu allen Initiativen der direkten Demokratie.
- In diesem Sinne Integration der brieflichen und digitalen Möglichkeiten in das demokratische System, z.B.: Onlinesammelsysteme und Briefabstimmungsmöglichkeiten für Bürgeranfragen, Petitionen, Volksbegehren, Volksbefragungen, Volksabstimmungen und bei der europäischen Bürgerinitiative, verantwortungsbewusster Umgang mit Web 2.0-Demokratie, wie u.a. liquid democracy und open government.
- Beschlussfassung eines wirksamen Informationsfreiheitsgesetzes mit Schaffung eines Informationsbeauftragten und niedrigschwelligem Zugang zum Recht auf Information und Transparenz.
- Konzertierte Dialog- und Informationsoffensive zu Europafragen mit stärkerer Rolle des Parlaments.
- Generell Stärkung des Parlamentarismus.
- Einrichtung eines Demokratiebüros im Parlament, das Anlaufstelle der zivilgesellschaftlichen Initiativen ist und somit einen aktiven Beitrag zur Überbrückung der wachsenden Kluft zwischen WählerInnen und Gewählten leistet. Damit soll auch die Bedeutung des Parlaments als zentrales Forum der Demokratie Österreichs unterstrichen werden. Dieses Demokratiebüro sollte unabhängig agieren können, Veranstaltungen abhalten und zumindest einen alljährlichen Bericht präsentieren.
- Ausbau der innerparteilichen Demokratie mit Vorwahlen, Urabstimmungen, digitalen Diskussionsplattformen und damit Attraktivierung der Parteien als unverzichtbare Träger des demokratischen Prozesses.
- Verwirklichung der verfassungsrechtlich verbrieften Unabhängigkeit des ORF durch ein neues ORF-Gesetz und Einführung einer „Medienabgabe“ statt der Rundfunkgebühr.
- Fördernde Rahmenbedingungen zur Stärkung von Unabhängigkeit, Vielfalt und Qualität der Medien in Österreich, da diese systemrelevant für die Demokratie sind – Printmedien, private Radio- und TV-Anbieter, Internet, wobei österreichischer „Content“ und österreichische Wertschöpfung im Vordergrund stehen sollten, u.a. durch eine „Medienabgabe“.
- Intensivierung der politischen Bildung, deren Bedeutung durch die neuen digitalen Möglichkeiten und die zu erwartende stärkere Nutzung der Elemente der direkten und partizipativen Demokratie noch höheren Stellenwert erlangt
- Umsetzung der jahrzehntelang versprochenen und verschleppten Staats-, Verwaltungs- und Föderalismusreform – Reformföderalismus – Ländermitwirkung an der Bundesgesetzgebung (Bundesratsreform, Landtage, Landesregierungen). Erste Schritte zum „Einstieg in den Umstieg“ beim neu zu verhandelnden Finanzausgleich und in der „Umsetzungsgruppe“ von Bundeskanzler, Vizekanzler und Landeshauptleuten.
Nachfolgend zum Download
Demokratiebefund-Gesamtunterlage
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