DER SPIEGEL für Mehrheitswahlrecht
Das angesehene deutsche Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” plädiert in seiner Ausgabe 25 vom 16. Juni für die Einführung des Mehrheitswahlrechtes in Deutschland.
Dieser Vorschlag erfolgte im Rahmen der siebenteiligen Serie “Die Zukunft der Demokratie” und wurde im Inhaltsverzeichnis folgendermaßen angekündigt: ”Das politische System in Deutschland steckt in der Krise - höchste Zeit für eine Reform des Wahlrechts und des Föderalismus”.
Hier der Auszug zum Thema "Wahlrecht":
Der hessische Ministerpräsident Roland Koch gönnte sich vor zwei Wochen einen kleinen Scherz. Er ließ die rot-rotgrüne
Mehrheit im Landesparlament ein Gesetz gegen Studiengebühren verabschieden, in dem der entscheidende
Passus fehlte: Ausgerechnet den Satz, mit dem das Ende der Studiengebühren wirksam geworden wäre, hatten die
linken Reformer vergessen. Koch verweigerte die Unterschrift unter das Gesetz.
Die SPD-Fraktionschefin Andrea Ypsilanti stand mal wieder blamiert da. Auch Koch machte keine gute Figur. Die
Grünen, die er wochenlang umworben hatte, sahen ihr Bild von dem CDU-Mann Koch bestätigt. Eine Regierung, die
trickst, eine dilettierende Parlamentsmehrheit - in Hessen lässt sich das Kernproblem des deutschen Wahlsystems
besichtigen.
Im Landtag gibt es weder für CDU und FDP noch für SPD und Grüne eine Mehrheit. Es wird sich am Ende eine
Koalition zusammenfinden müssen, die weder von den Parteien noch vom Wähler gewollt war. Oder es gibt
Neuwahlen. Das wäre dann die Kapitulationserklärung der Politik.
Hessen wird keine Ausnahme bleiben. Die Linke zieht in immer mehr Parlamente ein. Für die Volksparteien CDU,
CSU und SPD wird es schwieriger, mit nur einer kleinen Partei eine Mehrheit zu bilden. Drei-Parteien-Koalitionen
werden zunehmen.
Das erschwert das Regieren, weil drei Parteien eine Koalition unbeweglich machen. Schon in klassischen Zweier-
Bündnissen müssen beiden Seiten darauf achten, die eigene Klientel zu bedienen. Je mehr Parteien regieren, desto
größer wird die Zahl der Sonderinteressen, die eine Koalition befriedigen muss.
Es gibt Staaten, in denen sorgt das Wahlrecht für größere Klarheit, in Großbritannien zum Beispiel. Dort gibt es bei
der Unterhauswahl das Mehrheitswahlrecht - wer die Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis erringt, hat gewonnen. Dieübrigen Stimmen verfallen.
Das System hat seine negativen Seiten. Es benachteiligt kleine Parteien. Es macht aus kleinen Stimmenmehrheiten
große Regierungsmehrheiten. Tony Blairs Labour Party bekam bei den letzten Wahlen nur 35,2 Prozent der
Stimmen, hatte im Parlament aber eine Mehrheit von 55 Prozent der Sitze. Im Extremfall kann eine Partei, die alles in
allem weniger Stimmen erhalten hat als eine Konkurrenzpartei, die Mehrheit der Abgeordneten stellen.
Aber ist das wirklich so problematisch, ja undemokratisch, wie die Gegner des Mehrheitswahlrechts behaupten? Die
Demokratie in Großbritannien wirkt recht gefestigt. Das Mehrheitswahlrecht zwingt zur politischen Entscheidung, es
ist ein System der Alternative, es fördert eine Konzentration der politischen Kräfte. Das tut der Demokratie gut.
Im Mehrheitswahlsystem kann der Sieger umsetzen, was er vorher versprochen hat. Er muss die Verantwortung
dafür übernehmen, wenn er es nicht tut. Angela Merkel könnte sich nicht mehr hinter der SPD verstecken, wenn sie
wieder ein Wahlversprechen bricht. Die Wähler könnten sie beim Wort nehmen. Das ist wichtig in einer Demokratie.
Im Mehrheitswahlrecht ist die Stellung des einzelnen Abgeordneten stark. Auch das spricht für dieses Wahlsystem.
Die Parteiführung kann unbotmäßige Abgeordnete nicht bestrafen, indem sie ihnen einen guten Listenplatz
verweigert. Abgeordnete, die direkt gewählt werden, haben in der Regel einen engeren Kontakt zu ihren Wählern als
Kollegen, die auf der Liste abgesichert sind. Sie sind weniger empfänglich für Druck aus den Parteizentralen.
Für das relative Mehrheitswahlrecht der Briten spricht ein weiterer Punkt, den der konservative Politikwissenschaftler
Dolf Sternberger schon vor mehr als 40 Jahren hervorgehoben hat. Es ist einfach zu verstehen und zu handhaben: "In jedem Wahlkreis gilt derjenige Kandidat als gewählt, der die meisten Stimmen erhalten hat. Punkt", schrieb
Sternberger.
Das deutsche Wahlsystem versteht vermutlich nur eine Minderheit. Wofür Erst- und Zweitstimme gut sind, muss den
Bürgern vor jeder Wahl neu erläutert werden. Dass es Überhangmandate gibt, die das Ergebnis einer Wahl deutlich
verschieben können, wissen nur wenige. Wie sie zustande kommen, müssen selbst Fachleute nachschlagen. Ob der W ähler seinen Willen in einem solchen System wirklich ausdrücken kann, ist fraglich.
Und welcher Wählerwille überhaupt?
Sozialdemokraten und Union sprechen vom Wählerwillen, wenn sie die Große Koalition rechtfertigen wollen.
Vielleicht aber war dies das Letzte, an das die Wähler dachten. Möglicherweise hätten sie eher ein Bündnis von SPD,
Grünen und FDP vorgezogen, das ja im Parlament ebenfalls eine Regierung bilden könnte.
Die hessische SPD-Chefin Ypsilanti behauptet, die Wähler hätten eine rot-rotgrüne Koalition gewollt. Genauso gut
könnte Koch sagen, die Bürger seien für eine Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen.
All das spricht dafür, das Mehrheitswahlrecht in Deutschland einzuführen. Das garantiert keine bessere Politik. Es
sorgte aber für klare Verhältnisse und Verantwortungen. Und das ist nicht wenig.
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